KENN/CH

Julius Carstens

Saarlouis — Unterm Vorzeichen

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Illustration von Sina Schlerf (Ausschnitt)

Schon lange war niemand anderes mehr hier drin, schon lange lässt du niemanden mehr hinein (es wäre auch gar kein Platz für eine weitere Person); Papier und Wäsche schiefstapeln sich auf dem Sofa und den Stühlen bis auf einen, der vor einem Schreibtisch steht. Darauf mittig ein Laptop und davor Platz für einen Teller, ansonsten erheben sich rechts und links zwei Hügel aus Geschirr, leeren Plastikverpackungen, Flaschen und Dosen und Papier, die sich wie ein Moor auch auf dem Boden um den Tisch herum ausbreiten, ein Moor, pass auf, dass du keinen Schritt vom sicheren Weg abkommst. Die beiden Fenster sind so gut es geht verdunkelt, du hast zwar keine Vorhänge, doch du hast Zeitungsseiten mit Klebestreifen vors Fenster geklebt, sodass wenigstens das direkte Licht nicht in das Zimmer einfallen kann, und du lässt niemanden hinein, auch keine Luft, denn das Fenster bleibt geschlossen, das Zimmer ist rauchig stickig alles Schwarze sammelt sich in diesem Zimmer, doch das merkst du nicht, warum merkst du es nicht, der Atem muss scheitern an dieser Luft. Doch: Hier drin, in deiner Wohnung, dieser Enklave, fühlst du dich wohl. Noch wohler fühlst du dich, wenn du Bier trinkst, das billige, das dich aufpustet wie einen Ballon und leicht macht; und dabei rauchst du Zigaretten; du hast dir angewöhnt, die fertiggerauchte Zigarette noch glimmend in eine der leeren Bierflaschen zu werfen und sogleich dir eine neue anzuzünden, die Flasche raucht dann wie ein niedlicher Vulkan und der Rauch verbindet sich mit dem anderen und sammelt sich an der nicht sehr hohen Decke, ein hellgrau flauschiger Rauchteppich, und der drückt von oben schwer auf das Zimmer und deine Welt herab. Du sitzt an deinem Schreibtisch, mit Bleistift Zeichenreihe um Zeichenreihe kritzelnd auf weiße Seiten stapelweise, doch nichts! bleibt davon. Wenn du dann aufstehst, schmeißen sich die Zeichen auf deine Augen, reißen dein Sehen ein, und nichts! bleibt davon. Höchstens rotzt du dann schwarzen Schleim ins Spülbecken, doch diese Buchstaben, die schwarz im Becken kleben bleiben, spülst du gleich weg, bevor sie zu entziffern wären. Und oben hangelt sich der Rauch entlang, und du wohnst unterm Dach, und direkt über dir das Zeichen, das Vorzeichen: Überblickend die Felder und die Hundewiese, die Autobahn und den Fluss, Vorstadtsiedlungen und Industriegebiete, weiße Fassaden und braune Dächer, Einkaufszentren und Parkplätze, die Autos in Strömen die fließen und stauen dann tröpfeln und an Schwindel darf gar nicht gedacht werden, Schwindel treibt die Stockwerke herunter, Schwindel lässt dich fallen fallen die Fenster die Blicke die deinen Schatten vorbeifallen sehen — Fallen, der Fall, das Danach machen Angst —— stattdessen keiner deiner Blicke über die Stadt im Tal; denn dahinten weiter links auch die grauen Hallen, das Zeichen das Vorzeichen die Arbeit die Haltung die Sicher- und Vergangenheit… Dem gestirnten Nachthimmel war nachts ein gezackter Komet entfallen, er schlug ein und zeigte die Zeit an, wird später da unten bloß gelegen haben… Heute könntest du nachts auf dem Berg in der Ferne die Laterne sehen, entzündet für alle im Tal, du könntest, wenn du dich trauen würdest.

Aufstehen, Aufstehen, sinnlos klingelt dein Wecker morgens zur gewohnten Zeit, und du bleibst liegen, schaust aufs Handy, bis du vormittags Hunger bekommst und etwas in die Mikrowelle schiebst. Währenddessen treffen sich auf dem Großen Markt (graues Herz des Tals) alle anderen wieder, so wie sich hier schon immer alle getroffen haben: Escort (das bedeutete Gefährte, bedeutete Zusammenhalt, bedeutete Dasein, Deinsein, Dumeinsein, Dumeinssein, Dumeinsgewesensein, Dummgewesensein, Keinsein), Capri (das bedeutete Sehnsucht nach Ferne nach Wärme, dem was wir bisher nicht erreichen können, doch schlägt die Sonne wie ein Schmetterling, der verglüht, es stinkt), Fiesta (das bedeutete das Erreichte, Eigene und kurze Bewegungsfreiheit, das Erreichbarsein, das Fehlen, das Unerreichbarsein, eine Umstellung), Orion (das bedeutete Geraden und Nebel, der quillt und verhüllt, Stechen, geäderte Segel zum Schweben und Küsse zwischen den Linien), Focus (wie ein Netz sind die Blicke durch die Stadt und durch das Tal gespannt, kaum durchdringbar, doch im Polygon laufen alle Linien zusammen, sie vereinen sich zu einem Punkt), C-Max (manche Linien, intensive Blicke voller Sehnsucht, sind so dick wie Seile), Kuga (manche, flüchtige, sind haarfein, höchstens zu erahnen). Und immer werden sie hier stehen, denn sie haben das Herz eingenommen, und von hier aus breiten sie sich durch alle und in allen Adern aus; ein Schnurren Surren Brummen Rasseln Quietschen Rumpeln Bollern Scheppern Krachen Knallen, das schon lange das Tal und den ganzen Tag einnimmt und immer weiter in die Nacht hineingreift, die Nacht, in der du liegst und den Tag vergisst, und eine unsichtbare, immer größer werdende Dunstglocke breitet sich immer weiter über dem Tal aus

und heute Nacht erreicht sie deine Wohnung; es ist Mitternacht und du musst aufschrecken: Das Grollen und die Abgase von da unten prallen gegen deine Fenster und durch die Ritzen, durch die Ritzen, durch die sonst nichts hinein-, nichts hinausdringt, dringen sie in diese Enklave, deine Wohnung, du schreckst auf springst auf, woher, woher kommt das, du blickst umher, auf einmal! in deinem Sehnen zum Erfühlen der Höhe du hechtest zum und reißt die Zeitungen vom Fenster und das Fenster auf und dein Blick fällt und fällt auf die andere Seite des Tals auf die für alle scheinende Laterne auf das Polygon — sogleich ein armdickes Seil ist von deinen Augen gespannt zum Polygon — und in dem Moment versinkst du im Morast deiner Wohnung und weißt und kannst nichts anderes, du beginnst am Seil zu ziehen, gegen die Schwere der schwarzen Buchstaben und des eisernen Körpers ziehst du, und der Metallkörper gerät in Bewegung, kommt dir näher, das gezogene Seil kringelt sich hinter dir in deiner Wohnung und die Stadt vor dir knickt ein am Fluss, die Autos müssen sich anstrengen denn die Straßen beginnen zu steigen zu steigen und ihr Weg wird immer aufrechter, in der ganzen Stadt Durchdrehen der Räder Heulen der Motoren und dann Rutschen in den Knick, es ist nicht zu verhindern, dass die Autos Schaden anrichten in der Stadt, die Sollbruchstelle klafft unüberhörbar laut, mit lautem Platschen purzeln rutschen sie qualvoll in den Fluss; der Metallkörper kommt dir immer näher, du ziehst am Seil und das Polygon kommt auf dich zu und du reißt am Seil und das Polygon kracht spitz in deine Wohnung und der Morast und die Buchstaben und der Atem spritzen in alle Richtungen und du klemmst und

du endest zwischen dem was die sagen was kommt und dem was niemand weiß was ist

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Illustration von Sina Schlerf

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